Über das Projekt
Geschichte des Konzerts
Das Konzert, wie wir es heute kennen, entstand im 18. Jahrhundert in den großen Musikstädten Europas – London, Paris, Wien – und nahm um die Wende zum 20. Jahrhundert seine bis heute bestehende Form an; gerade dann, als (mit der Erfindung des Grammophons) Musik nicht mehr per definitionem ‚live‘ sein musste, um gehört zu werden.
Das moderne Verständnis von Konzert umfasst verschiedene Elemente: eigene Säle und Bauten, eine spezifische Programmstruktur und ein Kernrepertoire, ritualisierte Verhaltensweisen von Musiker/innen und Publikum sowie eine bestimmte Festlichkeit. Angesichts grundlegend unterschiedlicher Bedingungen im frühen 21. Jahrhundert scheint jedoch die Frage angebracht, ob diese Elemente alle noch relevant sind.
Krise? Welche Krise?
Und so stellt sich die Frage, was eigentlich in der Krise ist, wenn von der Krise des Konzerts geschrieben wird: Ist es die Krise des Inhalts, also der klassischen Musik ganz allgemein? Handelt es sich lediglich um die Krise dieser spezifischen Art, klassische Musik zu hören? Oder hat die Live-Darbietung von Musik generell an Attraktivität verloren? Letzteres kann angesichts hoher Zuwachsraten im Konzertbetrieb der populären Musik ausgeschlossen werden, doch für die anderen beiden Optionen gibt es gute Gründe: eine Vorliebe für klassische Musik dient kaum mehr zur sozialen Profilierung. Die Gesellschaft, die sich die Ausdrucks- und Verhaltensformen des klassischen Konzerts einst als ihr eigenes Abbild geschaffen hat, existiert heute so nicht mehr. Und natürlich haben digitale Musikformate, Smartphones und MP3-Player jedem die Möglichkeit eröffnet, Musik selbstbestimmt zu jeder Zeit und an jedem Ort zu hören. Alle Aspekte tragen sicherlich zu dem beobachtbaren Rückgang und der Überalterung des Publikums klassischer Konzerte bei – doch statt mit einer Krise haben wir es vielleicht eher mit einer soziokulturellen Transformation zu tun, die das Konzert gerade erfährt. Wohin aber wird die Transformation führen, und was könnte dabei aus dem klassischen Konzert werden?
Das klassische Konzert und sein Potenzial
Ein Konzert kann ein besonders intensives, berührendes und beglückendes Musik-Erleben ermöglichen. Hier setzt unser Projekt an: Mit ihm wollen wir einen Beitrag zu der Frage leisten, wie Konzerte gestaltet sein könnten, die eine adäquate Ausdrucks- und Erlebensform von klassischer Musik für ein Publikum des 21. Jahrhunderts bieten. Wir knüpfen damit an die Arbeit von Musikvermittler/innen an, vor allem aber auch an die vielen kreativen Versuche von Konzertmacher/innen und Dramaturg/innen, Programmstruktur, Ablauf und Atmosphäre und Situation des Konzerts zu diversifizieren. Wir fragen also: Was unterscheidet das Konzert von anderen Arten, Musik zu hören? Und wo könnten hier Potenziale für intensiven Musikgenuss liegen?
Drei zentrale Merkmale lassen sich identifizieren: Konzerte sind per se live, sie sind gemeinschaftliche, soziale Ereignisse und bestimmte Musik steht im Mittelpunkt. Alle Beteiligten erleben etwas Einmaliges, so nicht Wiederholbares; durch ihre Erlebnisse können sie sich gegenseitig „anstecken“ und sogar in bestimmten Hinsichten synchronisieren.
Bisherige Forschung zum Konzert
Als ein historisches, soziales und musikkulturelles Phänomen ist das Konzert umfangreich und differenziert erforscht. Gerade in jüngerer Zeit gab es viel empirische und sozialwissenschaftliche Forschung zu Anzahl und Zusammensetzung des Publikums. Qualitative Studien haben vor allem die Motivation und das Erleben von Konzertbesucher/innen untersucht. Besonderes Augenmerk wurde in den letzten Jahren auf den partizipativen und ko-kreativen Aspekt von Live-Darbietungen gelegt. Alle in diesem Feld Tätigen rufen dazu auf, Menschen im Publikum nicht nur als Kulturkonsument/innen, sondern als Individuen und im Kollektiv wahrzunehmen.
Unser Ansatz: Das Konzert-Experiment
In unserer Forschung bringen wir die Konzertforschung mit der aktuellen Musikpraxis zusammen und fragen, wie Menschen Musik in Abhängigkeit von der konkreten Gestaltung eines Konzerts erleben. Welche Änderungen des Formats führen zu Änderungen des Erlebens? Wo können Erlebenspotenziale freigesetzt werden?
Dafür übertragen wir die künstlerische Metapher des experimentellen Konzertformats zurück in die Wissenschaft: wir planen eine Reihe von sieben Konzerten, in der das Konzertformat jeden Abend in einem Aspekt verändert ist, während Programm und Musiker/innen gleich bleiben. Auch die musikalische Gestaltung der Werke soll sich Abend für Abend so wenig wie möglich unterscheiden. Das Ziel ist es, Rückschlüsse ziehen zu können auf den Zusammenhang zwischen Unterschieden im Musik-Erleben des Publikums und der jeweiligen Konzertvariation.
Musik-Erleben im Konzert: Kann man das messen?
Wie aber kann man Musik-Erleben messen? Wir haben uns dafür entschieden, existierende Methoden zusammenzuführen und um weitere zu ergänzen. Vor dem Konzert werden wir das Publikum mit Sensoren ausstatten, die verschiedene körperliche Signale messen, die sich in der musikpsychologischen Forschung als gute Indikatoren für emotionale Erregung erwiesen haben (wie Hautleitwert oder Herzratenvariabilität). Direkt im Anschluss an das Konzert werden wir die Menschen im Publikum und die Musiker/innen ausführlich befragen. Darüber hinaus filmen wir das Publikum, um sowohl die Mimik als auch die Bewegungsenergie auswerten zu können. Wir gehen davon aus, dass wir durch die Kombination dieser vielfältigen Techniken zur Erhebung von Verhaltens-, subjektiven Erlebens- und physiologischen Daten ein möglichst umfassendes und differenziertes Bild des Musik-Erlebens der Menschen im Publikum erhalten.
Unser Team
Wir haben verschiedenste wissenschaftliche und künstlerische Expertisen in einem Team radikaler Interdisziplinarität versammelt. Expert/innen aus den Bereichen Musikwissenschaft, Kultursoziologie und Psychologie arbeiten mit einem Konzertdesigner, Ingenieuren und IT-Spezialist/innen aus verschiedenen Ländern zusammen. Die großzügige Unterstützung der VW-Stiftung macht dieses Forschungsprojekt möglich.